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Reisetipp: Glaskunst von David Tremlett in Villenauxe-la-Grande

Kunst kann man auch auf der Couch genießen, mit einem aufgeschlagenen Bildband auf den Knien. Oder am Computerbildschirm, beim Anschauen großartiger Gemälde aus aller Welt in höchster Auflösung. Aber eines geht nicht daheim: Eintauchen in das farbige Licht, das durch kunstvolle Glasfenster in einen weiten Kirchenraum fällt. Für dieses Erlebnis muss man auf Reisen gehen. Zum Beispiel nach Villenauxe-la-Grande. Sie wissen nicht, wo das liegt? Macht nichts. Der kleine Ort in der Nähe von Troyes in der Champagne ist erst seit kurzem ein lebhaft leuchtender und furios farbiger Fleck auf der künstlerischen Landkarte Frankreichs.

Die Verglasung von David Tremlett in Villenauxe-la-Grande, Foto: Elisabeth Peters

Der Ort

In der Kirche Saint Pierre et Paul von Villenauxe-la-Grande wurde 2005 im Beisein des französischen Kultusministers ein aufsehenerregender Glasmalereizyklus eingeweiht. Alle Fenster des mittelalterlichen, seit 1840 unter Denkmalschutz stehenden Bauwerks, waren nach einheitlichem Entwurf des britischen Künstlers David Tremlett neu verglast worden. Die Ausführung übernahm das renommierte Atelier Simon Marq in Reims. Wie war ein solches Projekt in der französischen Provinz möglich? Den Anfang machte die hochherzige Stiftung eines 1992 verstorbenen Bürgers, der der Gemeinde testamentarisch eine ansehnliche Summe zur Erneuerung der Kirchenfenster von Villenauxe-la-Grande hinterließ. Anlass hierfür war vielleicht die 1992 begonnene (und 2000 abgeschlossene) Sanierung des Kirchengebäudes. Außen vor blieb hierbei jedoch die farblose Notverglasung aus den 1950er Jahren, die die 1940 zerstörten Fenster ersetzt hatte. Im Zweiten Weltkrieg war auch das Achsfenster des Chores verloren gegangen, das der bekannte Maler und Erneuerer katholischer Kirchenkunst Maurice Denis 1926 entworfen hatte. Drei Kartons für das Fenster haben sich übrigens erhalten und wurden 2018 von den Erben an die Cité du Vitrail in Troyes übergeben. Sie zeigen die Kirchenpatrone Petrus und Paulus oberhalb eines Schlachtfeldes, denn das Achsfenster sollte an die Toten der Grande Guerre erinnern. Diese Erinnerung wurde dann vom Zweiten Weltkrieg nur zu gründlich getilgt.

Das Projekt

Die neue Verglasung des 21. Jahrhunderts verzichtet auf Figürliches. Wenn auch nur in der Darstellung, nicht in der Deutung. Gegenständliches leuchtet auf und tritt dann doch hinter abstrakten Formen zurück. Das Bildprogramm entstand in Zusammenarbeit mit der Commission diocésaine d‘ art sacré der Diözese Troyes und dem Comité national d’art sacré, einem Gremium des französischen Episkopats. Es handelte sich aber um einen Auftrag der öffentlichen Hand, da die Kirche in Frankreich nicht Eigentümerin der von ihr genutzten Sakralbauten ist. Die Realisierung eines so umfassenden Projektes war nur möglich, weil die Initiativstiftung von 1992 durch Beiträge des Staates und der Gebietskörperschaften sowie Spenden von Gaz de France auf 1,15 Millionen Euro aufgestockt wurde. Die Direction Régionale des Affaires Culturelles schrieb 2002 einen internationalen Wettbewerb aus, an dem 36 Künstler teilnahmen. Im Februar 2003 fiel die Entscheidung für den Entwurf von David Tremlett.

Der „Wandzeichner“ David Tremlett

Tremlett, 1945 in Cornwall geboren, ist vor allem für seine abstrakt-flächigen Wandzeichnungen bekannt. Mittels Pastelkreiden „baut“ er neue Räume innerhalb bestehender Architekturen. Dabei gestaltet er häufig auch sakrale oder ehemals sakrale Räume neu. Das früheste und wohl immer noch populärste dieser Projekte ist die Cappella del Barolo in La Morra.

Chappella La Morra, Foto: Bosinver, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Im bekannten Weinbaugebiet des Piemont strukturierte Tremlett 1999 das Innere dieser längst aufgelassenen Kapelle um, während sein Freund Sol LeWitt dem Außenbau eine poppige neue Farbigkeit verlieh. Das jüngste Werk dieser Art wurde 2020 in Serravalle Langhe, nicht weit von La Morra, realisiert. Hier handelte es sich um eine Erneuerung der Kapelle San Michele, deren Chorgewölbe mit spätgotischen Fresken geschmückt ist. Erstmals legte Tremlett dabei nicht selbst vor Ort Hand an. Denn wegen der Pandemie musste die Gestaltung nach seinen im Atelier entstandenen Zeichnungen von erprobten Mitarbeitern in Italien ohne sein Zutun realisiert werden. Das war ungewohnt. „Ich liebe es, aktiv an meinen Werken teilzuhaben, mir die Hände schmutzig zu machen.“ Tremlett posierte gelegentlich auch mit von Kreide eingefärbten Handflächen für die Fotografen. Er hatte diese Art der Malerei in jungen Jahren auf ausgedehnten Reisen in Afrika kennengelernt. Mit den Händen (und denen seiner Mitarbeiter) reibt Tremlett normalerweise die Farbe in den Putz. Die Wand ist das Gegenüber und die Grenze. „Tatsächlich baue ich etwas in meinen Wand-Zeichnungen, aber innerhalb der Oberfläche“. Diese Oberflächen sind kreidig stumpf und dicht. Tremletts “Bauten” sind in der Mehrzahl vergänglich. Sie entstehen als ephemere Kunstwerke in Museen und Galerien. „Wenn sie verschwinden, verschwinden sie. Wenn sie standhalten, halten sie stand. Und das ist so in Ordnung“.

Vergänglichkeit und Dauer

Trotzdem kam dem Künstler schon bei seiner Arbeit in der Cappella del Barolo der Gedanke, dass seinem Werk in einem Sakralbau wahrscheinlich mehr Dauer beschieden sei. Vielleicht war auch dieser Wunsch nach etwas Bleibendem ein Anstoß, sich an dem Wettbewerb um die Verglasung von Villenauxe-la-Grande zu beteiligen. Dabei unterscheidet sich das Medium der Glasmalerei sehr deutlich von den bisherigen künstlerischen Mitteln des „Wandzeichners“ Tremlett. Dass die Ausführung der Entwürfe anschließend den Fachleuten anvertraut wird, fällt wohl nicht so ins Gewicht. Eher schon, dass das Glas, im Gegensatz zu den kreidig dichten Putzflächen, leuchtend und durchlässig erscheint. Die Glasfläche schließt den Raum, aber öffnet ihn gleichzeitig. Doch dieser Gedanke war Tremlett, der bereits in Italien und zuletzt 2019 in Graubündes auch die Außenwände kleiner Kapellen bemalt hatte, nicht neu. „Generell denke ich, dass das Innere eines Gebäudes immer in einen Dialog mit dem Außenraum treten muss“.

Das Bildprogramm

Ein fundamentaler Unterschied zu seinen Wandgestaltungen besteht aus meiner Sicht darin, dass Tremlett in Villenauxe-la-Grande ein komplexes Bildprogramm realisierte. Die mehr als 20 Fenster mit insgesamt etwa 200 Quadratmetern Glasfläche sind zu größeren Themenkomplexen, entsprechend ihrer Position im Kirchenraum, zusammengefasst. In fast kosmologisch-mittelalterlichem Zugriff sind die Fenster im Langhaus der Natur in Gestalt der vier Elemente und der Arbeitswelt des Menschen gewidmet.

Die lokale Keramikindustrie im Bild (rechtes Fenster), Foto: Elisabeth Peters

Die Fenster des Chorumgangs bleiben der Vergegenwärtigung des Heiligen vorbehalten. Dementsprechend thematisiert die Verglasung des Langhauses auf der Nordseite (von Westen nach Osten) die Elemente Erde und Feuer sowie die lokale Keramikproduktion. Dem stehen auf der Südseite die Elemente Wasser und Luft sowie der örtliche Weinbau gegenüber.

Raumbezüge

Das „Kirchenfenster“ in der Taufkapelle, Foto: Elisabeth Peters

Dabei ergeben sich vielfältige innere Bezüge zwischen den einzelnen Fenstern und zu ihrer Position im Kirchenraum. So zeigen die beiden dem Element Erde gewidmeten Fenster eine Art abstrakter Hügellandschaft, links als nächtliche Szenerie in düsterer Farbigkeit. Die Landschaft kann durch die in der Nähe dieser Fenster befindliche Kreuzigungsgruppe als Hügel von Golgotha verstanden werden. Die Entwürfe zum Thema Wasser schmücken den Bereich des Taufbeckens in der Südwestecke. Dort ist aber auch ein durch eine große geometrische Form charakterisiertes Fenster, als Kreuz oder Kirchengrundriss lesbar, eingefügt. Die Taufe als Aufnahme in die Kirche vollzieht sich unter dem Zeichen des Kreuzes. Die strenge und geschlossene Form dieses „Kirchenfensters“ steht ganz im Gegensatz zu den beiden Fenstern, die das Element Luft symbolisieren.

Das Element Luft als Atemhauch, der Maßwerk und Mauern durchweht (südliches Seitenschiff), Foto: Elisabeth Peters

Hier ziehen sich konzentrische Kreise, die nur fragmentarisch in den gläsernen Flächen sichtbar werden, über beide Fenster. Die Kreise setzen sich unsichtbar als gedachte Linien auf den Quadern der Mauern und über das Maßwerk hinweg fort, auf das die Gestaltung keine Rücksicht zu nehmen scheint. Aber ein zweiter Blick zeigt, dass die gerundeten Formen dieses Bild gewordenen Atemhauchs besonders gut zu dem elegant geschwungenen Flamboyantmaßwerk passt, das diese beiden Fenster vor den anderen auszeichnet. Weitere runde Elemente zeigen die östlich anschließenden Fenster der Südseite. Diesmal sind sie jedoch brav als kindlich wirkende Farbtupfen auf fast farblosem Glas in den vorgegebenen Rahmen eingefügt. Sie sollen den Weinbau symbolisieren und lassen an Trauben oder auch an perlenden Champagner im Glas denken.

Darstellung des Heiligen?

Fenster im Chorumgang: links Blautöne als Referenz für die Jungfrau Maria, rechts Rottöne für das vergossene Blut Christi – ganz rechts das Weinbau-Fenster des Langhauses, Fotos: Elisabeth Peters

Die fünf Fenster des Chorumgangs wirken dagegen vergleichsweise chaotisch. Hier läuft die Suche nach Gegenständlichem ins Leere. Die Verglasung der Nordseite ist Maria, die der Südseite Christus gewidmet. Sollten die hier angrenzenden Traubenfenster des Langhauses eventuell auch eine eucharistische Konnotation haben? Tremlett verzichtet, wie nicht anders zu erwarten, auch hier auf Figürliches.

Im Achsfenster des Chorumgangs (links) verbinden sich Blau und Rot zum Symbol des Ostergeheimnisses, Foto: Elisabeth Peters

Es spricht nur die traditionelle Symbolik der Farbe: „Die Dominanz bläulicher Töne ist eine Referenz an die Jungfrau Maria, die Präsenz der roten Töne an das vergossene Blut Christi“, wie Tremlett erläutert. Die abstrakten Formen sind vielgestaltig und dynamisch. Im Achsfenster ist das Ostergeheimnis symbolisiert durch das Zusammenfließen der Komplementärkontraste Rot und Blau. Die Gegensätze fallen in eins. Diese festliche Farbenpracht ist bewegend. Es ist kein Bild, das man von einem bestimmten Standpunkt aus betrachten müsste. Man darf sich in diesem farbigen Licht bewegen. Man sollte es sogar. Und das geht nicht von der Couch aus oder vor dem Computerbildschirm.

Falls Sie die Farbenpracht französischer Glasmalerei vor Ort erleben möchten: In Zusammenarbeit mit Conti-Reisen in Köln habe ich eine thematische Frankreichreise konzipiert, die Sie hier finden.

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