Reisen

Reiseleiterin in Zeiten von Corona

Der Kunst kann die Seuche nichts anhaben, den Künstlern schon – aber auch Kunstvermittlern wie mir. Inzwischen sprechen viele über die Künstler, die unter der Krise leiden. Wenige sprechen von denen, die über jene sprechen und jetzt meist schweigen. Studienreiseleiter, Museumspädagogen und andere Kunstvermittler konnten 2020 ihren Beruf kaum ausüben.

Ob ich dieses Jahr überhaupt meine Koffer packen darf?, Foto: Elisabeth Peters

Seit gut zwanzig Jahren arbeite ich als Reiseleiterin und führe meine Gäste durch Städte, Kirchen und Museen. Ich liebe es, Menschen bei der Begegnung mit Bildern und Bauten zu begleiten. Es ist ein Privileg, diese Augenblicke im Angesichte wundervoller Fresken oder großartiger Ruinen zu erleben. Das fehlt mir jetzt. Es fehlen mir die Menschen, aber auch die Bilder und Bauten. Statt sehnsüchtigen Lamentierens nun zunächst schlichte Zahlen.

Meine Corona-Statistik

Zu Beginn des Jahres standen in meinem Kalender 19 für 2020 geplante Studienreisen. Das bedeutete 149 Arbeitstage. Erfahrungsgemäß lassen sich nicht alle geplanten Reisen realisieren. Doch diesmal waren ungewöhnlich viele Termine schon sehr früh gesichert. Manche der festen Gruppen kannte ich schon lange als verlässliche Kunden, die immer wieder gerne mit mir unterwegs sind. 2020 versprach also, ein arbeitsreiches Jahr zu werden. Schließlich konnten wegen Corona nur vier meiner Reisen stattfinden. Und diese unter Bedingungen, die ich mir zu Jahresanfang nicht hätte träumen lassen.

Bevor die Saison am 15. März für mich beginnen würde, wollte ich noch zwei Erkundungstouren unternehmen. Diese Vorbereitungsreisen sind beides: Harte Arbeit und wunderbares Kunsterlebnis: „Learning by seeing“. Erarbeite ich mir ein neues Programm,  müssen Örtlichkeiten erkundet, Kunstwerke studiert und Kenntnisse vertieft werden. Keine Literaturrecherche kann diese Entdeckungsreisen ersetzen. Allerdings muss ich die Kosten selbst tragen und bin oft im Winter unterwegs. Viele Städte und Landschaften haben für mich zwei Gesichter: Die Gäste sehen meist nur das bezaubernde Sommerlachen, aber ich kenne auch das stille Wintergesicht einer Stadt.

Mein Beethovenjahr

Ziel meiner ersten Erkundungstour vom 23. bis 27. Januar 2020 war Wien. Dort folgte ich Beethovens Spuren durch die Stadt und hinaus in den Wienerwald. Mein persönliches Beethoven-Jubiläumsjahr hatte aber bereits viel früher begonnen. Zuhause in der Beethovenstadt Bonn feilte ich schon seit längerem an einer Reise, die die Lebensstationen des Musikers miteinander verbinden sollte. Schließlich bot ich mein Programm den Biblischen Reisen in Stuttgart an, für die ich seit Jahren arbeite. Als meine Beethovenreise dann kurz nach der Ausschreibung schon ausgebucht war, wurde gleich noch ein zweiter Termin gefunden. Ich war euphorisch und steckte sehr viel Energie in dieses Projekt.  Natürlich ist die Zeit, die ich mit Beethoven und seiner Musik verbracht habe, nicht verloren. Aber der Ausfall gerade dieser Reise war schmerzlich. Wie froh war ich gewesen, dass wir sogar Karten für die Neuinszenierung des Fidelio im Theater an der Wien, wo die Oper einst uraufgeführt worden war, bekommen hatten. Im März sollte die Reise stattfinden. Aber da würden in Wien und Bonn keine Orchester mehr spielen und die Theater geschlossen sein.

Am 28. Februar fuhr ich nach Italien, um eine Gruppenreise in die Emilia Romagna vorzubereiten, die bereits fest für Mai gebucht war. Diesmal für mich eine Nachtfahrt mit dem Flixbus nach Mailand. Von dort ging es mit der Bahn weiter nach Parma, Modena und Bologna. Im Morgengrauen des 6. Februar kam ich heim. Völlig erschöpft, aber voller großartiger Eindrücke. Wie gerne hätte ich diese Eindrücke mit meiner Gruppe geteilt! Aber die für Mai geplante Reise musste ausfallen. Es kam:

Der Lockdown

Am 11. März hielt ich einen Einführungsvortrag bei einer Gruppe in Mainz. Wir saßen dichtgedrängt im Pfarrheim und hatten ein mulmiges Gefühl. Viele der Leute kannte ich von einer Reise an die Côte d’Azur. Nun sollte es Ende April nach Burgund gehen. Aber würden wir wirklich fahren können? Nein, wir fuhren natürlich nicht. Und auch der Ersatztermin im Mai 2021 wurde im Laufe des Sommers wieder storniert.

Am 14. März saß ich auf gepackten Koffern. Tags darauf würde ich mit einer Gruppe nach Marseille fliegen – oder auch nicht. Schließlich kam die Absage des Veranstalters. Eine kluge Entscheidung. Ich hatte mir bereits ausgemalt, wie es wäre, mit einer Gruppe auf einem französischen Flughafen festzusitzen. Stattdessen saß ich dann zuhause fest. Aber das hatte eine deutlich andere Qualität. Plötzlich war Zeit für vieles. Ich konnte das genießen. Umgehend habe ich die Soforthilfe für Soloselbständige beantragt. Sie wurde blitzschnell bewilligt. Eine Beruhigung. Im Antrag hatte nicht gestanden, dass das Geld nur für Betriebskosten zu verwenden sei. Ich habe weder Ladenlokal noch Fuhrpark. Muss ich das Geld nun wieder zurückzahlen?

Eine Stornierung folgte der nächsten. Im Juni hätte ich nach Brescia und Bergamo fahren sollen. Ausgerechnet Bergamo!

Saisonauftakt auf der Seine

Im August begann dann tatsächlich meine Reisesaison. Es sollte eine Flußkreuzfahrt auf der Seine werden. Die Kabinen waren nur etwa zur Hälfte belegt, auch wegen der Corona-Auflagen, so dass nur zwei Reiseleiterinnen aufs Schiff gehen würden. Nun begann aber das Planen, Umplanen und neu Planen, denn das ursprünglich ausgeschriebene Programm musste stark modifiziert werden. Manche Sehenswürdigkeiten waren ganz geschlossen, andere für Gruppen nicht buchbar. Für den Monet-Garten in Giverny ließ sich kaum eine Alternative finden. Wir taten unser Bestes. Mein persönliches Highlight war der Besuch einer Impressionisten-Schau im Musée des Beaux Arts in Rouen mit meinen Gästen. Die gerade eröffnete Ausstellung war großartig. Was machte es da schon, dass mit dem „Tanz in Bougival“ von Renoir ein Star aus Boston coronabedingt nicht anreisen konnte? Und was machte es schon, dass wir mehrere Zeitfenster für kleinere Gästegruppen buchen und unsere Führung eben wiederholen mussten? Wir waren stolz auf unser Improvisationstalent. Das braucht man, wenn man durch eine zuvor nie gesehene Ausstellung führen darf, deren Katalog daheim noch nicht greifbar war. Belohnt fühlte ich mich durch den Applaus der Gäste und den spontan geäußerten Kommentar: „Das war doch ein sehr schöner Ersatz für Giverny!“

Gewöhnungsbedürftig war das kontaktlose Fiebermessen, immer wenn wir aufs Schiff kamen. Und immer die Sorge: was tun wir, wenn … In Versailles gab es trotz gebuchtem Zeitfenster endlose Warteschlangen vor dem Schloss, wobei der Abstand kaum für den Reifrock der Madame Pompadour gereicht hätte. Nur die Erläuterungen der Reiseleiterin und der strömende Regen sorgten für Kurzweil. Leider hatte erstere, in diesem Falle ich, weder Jacke noch Schirm dabei. Was wäre gewesen, wenn ich mir in den zugigen Gemächern Ludwig XIV. eine schlichte Erkältung geholt hätte? Durch das gestrenge Fieberthermometer wäre mir dann wohl der Zugang aufs Schiff verwehrt worden. Der Ritus des Fiebermessens wurde während weiterer Reisen Routine, blieb aber mysteriös. Wie konnte es sein, dass meine Gäste trotz nahezu fischiger Körpertemperatur ziemlich munter waren? Ein Geheimnis der Medizin?

Heimspiel mit Corona

Im September sollte ich dann eine österreichische Gruppe, die ich bereits von zwei Frankreichreisen kannte, durch Deutschland begleiten. Ahnungslos hatte ich 2019 dem österreichischen Veranstalter versprochen, die notwendigen Reservierungen vorzunehmen. Normalerweise ein Klacks. Ein bisschen Recherche im Netz, ein paar Anrufe, einige Mails. Normalerweise. Aber nichts war normal. Die Restriktionen machten das Programm zu einem Flickenteppich und rissen Löcher ins Budget, weil plötzlich die Gruppe mehrfach geteilt und für die Teilgruppe jeweils ein eigener Guide mit separatem Zeitfenster gebucht werden musste. Im Mittelalter gab es einst Heilige, denen die Gabe der Bilokation verliehen war. Sie konnten an zwei Orten gleichzeitig sein, um ihre Wunder zu wirken. Aber das hätte in unserem Fall kaum genügt. Trilokation wäre das Mindeste für eine Reiseleiterin in Coronazeiten. Ein kleines Rechenexempel von unserem Weimar-Tag: Eigentlich hatten wir ja das Goethehaus besuchen wollen, das nun aber für Gruppen nicht buchbar war. Wir schauten dem Geheimen Rat nur von außen in die Fenster und nahmen mit Schiller und Herzogin Anna-Amalia vorlieb. Natürlich jeweils zu drei unterschiedlichen Zeiten. Ich habe redlich versucht, die Gäste zu den unterschiedlichen Treffpunkten zu bringen oder sie dort zu erwarten bzw. nach der Führung wieder in Empfang zu nehmen. Ganz nebenbei durfte ich für alle gemeinsam sowohl eine Besichtigung der Herderkirche als auch einen Stadtrundgang gestalten. Wie gut, dass der Reiseleiter meist besser zu Fuß ist als seine Gäste.

Bella Italia!

Die Erfahrung mit den sehr engen Zeitfenstern verdichtete sich auf einer Italienreise, die ich zwei Tage nach Verabschiedung der Österreicher antrat. Es machte einfach keine Freude, dreimal hintereinander die wundervollen Mosaiken im Baptisterium der Orthodoxen in Ravenna in jeweils 14,5 Minuten zu erklären. Vor allem, wenn man vorher das Dommuseum dreimal hintereinander in jeweils 14,5 Minuten erläutert hatte. Auch die Aussicht darauf, anschließend das Mausoleum der Galla Placidia dreimal hintereinander in jeweils 5 Minuten erklären zu dürfen, hob die Laune nicht. Aber diesen Takt gaben die buchbaren Zeitfenster vor. Unerfreulich war auch der barsche Ton der Anweisungen. Nach den schrecklichen Erfahrungen der letzten Monate hätten sie ganz einfach Panik, erklärte ein Museumswärter, ein wenig schuldbewusst um Verständnis bittend. Das kann ich nachvollziehen. Aber nicht verstehen konnte ich, warum in der großartigen Basilika von S. Apollinare in Classe, wie auch an vielen anderen Orten Italiens, alle Kirchenbänke gesperrt waren. Nur ein Drittel meiner ohnehin kleinen Gruppe wurde jeweils gemeinsam vorgelassen. In dem riesigen Raum waren nur wenige Menschen. Dank unseres Kopfhörer-Systems konnten wir uns gut verteilen. Wie gerne hätten wir ein paar Minuten still und staunend vor diesem Paradies gesessen, das sich in der Apsis auftut. Aber offensichtlich fällt das Virus vorzugsweise den arglosen sitzenden Genießer in seiner Bank an, während der bedauernswerte stehende Mensch mit schmerzenden Füßen und wehem Rücken von ihm verschont bleibt.

Das Finale

Eine Rheinkreuzfahrt im Oktober sollte der krönende Abschluss meiner Corona-Saison werden. Noch am Tag vor der Abreise rechnete ich mit einer Stornierung. Zugegebenermaßen wäre mir das sogar lieber gewesen, denn das ausgeschriebene Programm war coronabedingt schon arg zusammengeschmolzen. Tatsächlich sollte das Eis unterwegs von Tag zu Tag noch dünner werden. Für den ersten Programmtag in Mainz hatten wir nur noch Führungen in Dom- und Dommuseum buchen können. Natürlich mit strengem Zeitplan und in kleinen Gruppen. Unsere Aufgabe als Reiseleiter war längst nicht mehr die Vermittlung von Kunst und Kultur, sondern eher die feldherrenmäßige Aufteilung der Gäste in Kohorten und Fähnlein zu pünktlichem Manöver. Mainz allerdings wurde zur Niederlage: Am Morgen kam der totale Lockdown in der Stadt mit Schließung des Dommuseums. Auch eine simple Stadtführung ohne Innenbesichtigungen wäre nur noch in Gruppen zu höchstens fünf Personen erlaubt gewesen. Wir hätten für unsere Gäste zwölf Guides gebraucht! Wir drei Reiseleiter machten eine Art Geländespiel aus der Situation. Ein Kollege stellte ad hoc eine Powerpoint-Präsentation zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt zusammen. Anschließend verteilten wir drei uns als Streckenposten in der Altstadt und versuchten, den vereinzelt ankommenden Gästen etwas topographische und kulturelle Orientierung zu geben.

Und dann täglich neue Hiobsbotschaften: In Basel konnten wir noch anlegen, aber der Ausflug nach Zürich musste ausfallen. Auch Colmar blieb uns verschlossen. Statt der fröhlichen Weinprobe in Kloster Eberbach gab es ein kleines Fläschchen Riesling in der Papiertüte zum Mitnehmen. Übrigens reichte dieses Mitbringsel mir mitnichten über den Frust der verpatzten Reisesaison 2020 hinweg. Ein kleines Fässchen wäre schon nötig.

Aber das Seltsamste an dieser denkwürdigen Rheinkreuzfahrt war: Die Gäste zeigten sich zufrieden. Nie gab es weniger Beschwerden. Die Menschen gingen ungewöhnlich freundlich miteinander um und plauderten bei Tisch und in der Lounge munter. Man war einfach dankbar, miteinander unterwegs zu sein. Die Sehnsucht, wieder reisen zu können, wächst nun – Anfang 2021 – bei mir täglich. Und wohl auch bei unseren Gästen. Das erfüllt mich mit Hoffnung.